Susanne Tägder
Susanne Tägder stammt aus Heidelberg. Nach ihrem Studium in Deutschland und den USA arbeitete sie als Anwältin und Richterin und wohnte viele Jahre im Silicon Valley. Sie veröffentlicht Kurzgeschichten und Essays und lebt heute mit ihrer Familie in Rüschlikon bei Zürich. Für einen Auszug aus ihrem ersten Roman erhielt sie 2022 einen Werkbeitrag Literatur des Kantons Zürich. Und im Herbst 2022 wurde ihr der Walter-Serner-Preis verliehen.
Laudatio zum Hauptpreis 2022
"Postkarten" von Susanne Tägder
Liebe Literaturfreund:innen, liebes Publikum!
"Aninas Schuh ist aus der Schule zurück, er hat sich mit der Sohle an die Teppichleiste im Flur gelegt, als wolle er schlafen." Der erste Satz der Kurzgeschichte mit dem Titel Postkarten ist ein zärtliches Stimmungsbild. Die Icherzählerin, eine alleinerziehende Mutter wirft einen Blick auf das, was allein von der Anwesenheit ihrer 15-jährigen Tochter Anina zeugt. Bei näherer Betrachtung beginnt ihr Schuh, der Larve eines Insekts zu ähneln. In diesem stark visuellen Einstieg klingt das Motiv der Verpuppung bereits an.
Seit kurzem kapselt sich Anina ab, zieht sich in ihr Zimmer zurück und schweigt. Ihre Mutter bemerkt: "ganz plötzlich hat sich der Aggregationszustand geändert. Die Luft war ein Gas, jetzt ist sie fest." Aninas Schweigen wird nur unterbrochen von "Silben wie Schnittwurst". Es gibt keine dramatischen Szenen, keine Ausbrüche, keine knallenden Türen.
Auf der Suche nach einem beiläufig erwähnten Erziehungsratgeber greift die ratlose Mutter zu den titelgebenden Postkarten und eröffnet einen verbalen Austausch. Überraschenderweise steigt die schweigende Anina auf das spielerisch-originelle Kommunikationsangebot ein. Die Postkarten mit sprechenden Motiven – von fernen Sehnsuchtsorten und vielsagenden Kunstwerken – übermitteln nur wenige Worte, chiffrieren und spiegeln aber Mutter und Tochter wider. Eine ausgesprochen charmante Idee. Ohne den Umweg der Post – und auch ohne Briefmarken - von Zimmer zu Zimmer. Ein literarisches Zeichen der Liebe zum Postkartenschreiben.
Nur am Ende, als Anina zu ihrer Oma aufs Land geschickt wird, kommt eine Karte mit der Post. Auf ihr finden sich eine Biene im Landeanflug und eine lang ersehnte emotionale Äußerung.
Auf subtile Weise entpuppt sich so erst langsam und parallel zur leichfüßigen Selbsterkenntnis, wie schwer es der alleinerziehenden Mutter wider Erwarten fällt, ihr Kind loszulassen.
Susanne Tägders "Postkarten" reiht sich nicht in die weitverbreitete Befindlichkeitsliteratur ein. Der Text ist vielmehr eine literarische Auseinandersetzung mit der Ablösung einer pubertären Tochter von einer tendenziell symbiotischen Mutter-Tochter-Beziehung und erzählt vom ersten zaghaften Schritt zum Flügge-Werden. Trotz des Gewichts des psychologischen Themas schreibt die Autorin mit leichter Hand, unaufgeregt, mit leisen Tönen, feinem, mitunter trockenem Humor und voller überraschender Wendungen.
Obwohl Sprache und Stil unmittelbar, konkret-visuell, ja fast drehbuchartig wirken, sich der Text offen gibt und vieles offen zu legen scheint, ist er vielschichtig und tiefgründig. Die Geschichte des Teenagers Anina im Stadium der Verpuppung entfaltet und erschließt sich für Lesr:innen erst über die symbolisch-metaphorische Ebene so richtig. Ein Schmetterling, der wiederholt neben anderen geflügelten Wesen in verschiedenen Formen auftaucht, wird zum Sinnbild für Aninas Metamorphose.
Für die Wahl zum Siegertext und Hauptpreis gab nicht zuletzt die vielfältige, raffinierte und dabei organische Umsetzung der thematischen Vorgabe den Ausschlag. Zu erwähnen wären noch ein verstopftes Abflussrohr, verpasste Anrufe, Aneinandervorbeireden und ein Rückgriff auf die gute alte Postkarte als Ausweg aus dem Schweigen und Fluchtpunkt für allzu große räumliche Nähe, an dem sich neue Kommunikationswege erproben lassen.
Nur soviel sei noch verraten: Der zu Hilfe gerufene Installateur verschafft nicht nur Abhilfe, indem er Essensreste – genauer einen steckengebliebenen Flügel - aus dem Abfluss entfernt und die Dinge wieder in Fluss bringt; in einem witzigen Dialog mit der schlagfertigen Auftraggeberin erweist er sich durch einen treffenden Hinweis auch als Seelenklempner.
Liebe Hauptpreisträgerin, ich gratuliere herzlich zum 15. Harder Literaturpreis und freue mich auf die nun folgende Lesung!
(Für die Jury: Manuela Schwärzler alias Liberata M)