Laudatio zum Förderpreis 2020

„rücklings: leibhaftig“ von Joachim Off

Sehr geehrte Festgäste, liebe Besucherinnen und Besucher, werte Autorinnen und Autoren,

ich möchte zunächst mit einer Zeitungsmeldung beginnen. „Ich habe in das Schicksal eingegriffen“ – so äußerte sich 2006 jene 54-jährige Krankenschwester, die vor Gericht gestand, sechs Patienten heimtückisch ermordet zu haben – aus Mitleid, wie sie behauptete. Dass die Entscheidung, ein solches Thema literarisch zu behandeln, viel Sensibilität und Behutsamkeit erfordert, liegt auf der Hand. Denn wie leicht könnte sich ein Autor, der dieses Thema unbedacht und marktschreierisch an sich reißt, dazu verleiten lassen, seinen Fokus auf die kalte Abscheulichkeit der Mordhandlung zu legen. Wie leicht könnten Leserin oder Leser mit niedrigen und damit banalen Motiven abgespeist werden – seien es nun Narzissmus, der Rausch der Macht oder auch nur das öde Geld, von dem bekanntlich immer die falschen Leute das meiste haben.
Der Harder Förderpreis hat es sich zum Auftrag gemacht, nicht nur sprachlich gelungene Texte ans Licht zu heben, sondern insbesondere Texte, die den Mut aufbringen, auch sogenannte schwierige Themen zu behandeln. Einen solchen Text haben wir hier vor uns. Und es ist ein Glück, dass er mit Joachim Off einen Autor gefunden hat, dem es gegeben ist, seinen Protagonisten und insbesondere die Komplexität seines Themas ernst zu nehmen. Ein mitunter auch unbarmherziges Streben nach Wahrhaftigkeit wohnt dieser Erzählung inne, das uns schwer erträglich scheint und uns bisweilen auch zu verstören vermag. Aber es ist notwendig, denn es handelt sich zweifellos um ein Thema, das zu den großen moralischen Problemstellungen unserer Zeit gehört, gerade weil ihm eines der letzten Tabus anhaftet: der Mord aus Mitleid. Joachim Off erspart weder seiner Figur des mordenden Pflegers noch uns das moralische Dilemma. Er weitet den Blick, schafft Verständnis, zeigt, urteilt nicht, sondern lässt uns selbst urteilen.
So führt er uns ohne weitere Umschweife heran an jene hilfsbedürftigen, sterbenden Menschen, die uns kalt und mitleidlos als „jaulende Monster“ vorgestellt werden. Es sind Ungeheuer, die ihre Angehörigen „als Geisel“ nehmen, ein „aufgeschwemmtes Ungetüm“ ist, was einst eine Mutter war, ein Biest, das keine Flüssigkeit halten kann, das „allseits ausläuft und flucht und keift, wann immer es jemanden in seiner Höhle wittert“. Tabus, so heißt es bei Freud, entbehren jeder Begründung, sie seien unverständlich und würden jenen selbstverständlich erscheinen, die unter ihrer Herrschaft leben. Wir dürfen uns von diesen drastischen Schilderungen nicht täuschen lassen. Off zeichnet mit dem mordenden Pfleger einen sensiblen Menschen, der die Bedürfnisse und Wünsche seiner Mitmenschen feinfühliger wahrnimmt als der Rest der Gesellschaft, der es als selbstverständlich erachtet, wenn Angehörige – und in den meisten Fällen sind dies Frauen – ihre Väter und Mütter, Lebenspartner oder Ehegatten unter Aufopferung ihrer eigenen Lebenskraft bis ans Lebensende zu pflegen haben. Sie werden mit dieser Verantwortung allein gelassen und wünschen sich Erlösung. Deshalb und nur deshalb sind es Monster. Off spürt dieses Tabu mit großer Behutsamkeit auf, gibt ihm Raum. „rücklings: leibhaftig“ ist ein außergewöhnlicher, intensiver und aufrüttelnder Text, der uns in eindringlicher Sprache an den Körper fasst. „Du johlst und jauchzt in meinem Kopf“, heißt es, sobald der mordende Teil das Steuer übernimmt, „dein Speichelfaden rinnt aus meinem Mund und du lutschst und schmatzt mit meiner Zunge“. Es ist kein völlig Fremder, der zu uns in den Wagen steigt.

Literatur hat stets auch die Aufgabe, den Finger in Wunden zu legen und das zu Wort zu bringen, was nicht spricht oder nicht sprechen kann – gleich, ob es von außen oder von innen erstickt wird. In diesem Text wurde diese Aufgabe mit großer Könnerschaft erfüllt. 

(Für die Jury: Constantin Göttfert)