Laudatio zum Harder Literaturpreis 2020

„Luke 5“ von Sonja M. Schultz

„Luke 5“ – was für eine schöne Geschichte. Und was für eine traurige, grausame Geschichte. Ein Ich erzählt der Leserin, dem Leser von einer Erinnerung, flüchtig wie ein Geruch, der vorüberzieht, aber Gefühle, Bilder und vergangene Zeiten heraufbeschwört. Ein Ich, das Bilanz zieht über das eigene Leben, eine bescheidene, aber, trotz oder wegen allem: eine glückliche Bilanz.
Es ist die Erinnerung an eine Kaschemme, die Luke 5, die hellwach wird, und an die Besucher der Luke 5, vor allem aber an eine besondere Besucherin, die Zweimeter-Inge. Sie ackert auf der Straße, ist einsam, wie alle einsam sind, die sich nachts in der Luke 5 einfinden, und wie alle dort geackert haben, die anderen eben am Hafen. Und es ist die Erinnerung daran, dass dieser Mann, der uns das erzählt, das seine getan hat, um Zweimeter-Inge glücklich zu machen. Ein Glück freilich, dem keine lange Dauer gegönnt war, aber eines, das auch bei Vollmond, oder: Säufersonne besehen ein Glück war. Und darin liegt das Besondere dieses Textes, dass eine Zärtlichkeit aufscheint, die auch ohne den Kontrast zum grobschlächtigen Umfeld ans Herz ginge, und es aber umso mehr tut, weil es der Autorin auf solch kunstvolle Weise gelingt, ein jedes Klischee souverän zu umschiffen. Dieser Zusammenhalt unter den Männern, ihr Respekt vor dieser viel zu großen Frau, die Schwäche zeigt und die Hafenarbeiter gerade damit gewinnt: hier ist ein großes literarisches Talent am Werk.
Sonja M. Schultz hat eine Erzählfigur geschaffen, die kaum von sich redet, sondern die, indem sie etwas über die Menschen erzählt, auch von sich spricht. Diese Erinnerung, so flüchtig sie auch sein mag, erzeugt starke poetische Bilder, weckt vergangene Zeiten, ohne der Nostalgie zu verfallen. Und auch wenn es ein Ich ist, das sich von der Leserin abgrenzt, ihr den Beobachterplatz zuweist, so ist es doch ein Ich, das sich dem Leser wiederum zuwendet, sein Innerstes preisgibt, einen mitnimmt in diese Unterwelt, sie für uns öffnet, ohne uns die Welt erklären zu wollen.
Der Alltag der Hafenarbeiter wird in witzigen, überraschenden sprachlichen Bildern geschildet, lakonisch wird die Leserin an die Hand genommen, mit dezenten Gesten wird der Leser aufgeklärt, über Lebensumstände, Geisterbier, Säuferpest, und der eine und andere Nebensatz wird nur gesagt, damit die Leserschaft mitkommt, und doch stolpert man nicht. Vielmehr trägt einen ein Rhythmus, ein Rauschen durch den Text, nimmt einen mit, lässt einen nicht fallen.
„Luke 5“ ist ein Text voller Gegenwart, aber auch voller großer Fragen, die ohne Antworten bleiben. Und es ist eine Analepse auf der Höhe der Kunst; ist es doch nur eine Erinnerung, die einen aber mit aller Kraft zurückwirft auf ein Jetzt, in dem noch immer alles da ist, was einmal war, wenn auch in anderer Form. Voll zarter Melancholie wird hier von der Liebe erzählt und vom Tod, und davon, was nach dem Tod bleibt, von denen, die wir geliebt haben.

Im Namen der – einhellig begeisterten – Jury gratuliere ich Sonja M. Schultz sehr herzlich zum Harder Literaturpreis 2020.

(Für die Jury: Tabea Steiner)